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Es dauerte auch bei Fredebeul lange, bis jemand an den Apparat kam; das dauernde Tuten machte mich nervös, ich stellte mir vor, daß Frau Fredebeul schlief, von dem Tuten geweckt wurde, wieder einschlief, wieder geweckt wurde, und ich durchlitt alle Qualen ihrer von diesem Anruf betroffenen Ohren. Ich war drauf und dran, wieder aufzulegen, gestand mir aber eine Art Notstand zu und ließ es weiterklingeln. Fredebeul selbst aus tiefem Schlaf zu wecken, hätte mich nicht im geringsten gequält: dieser Bursche hat keinen ruhigen Schlaf verdient; er ist krankhaft ehrgeizig, hat wahr- scheinlich immer die Hand auf dem Telefon liegen, um anzurufen oder Anrufe anzunehmen, von Ministerialdirektoren, Redakteuren, Zentralkomitees, Dachverbänden und von der Partei. Seine Frau habe ich gern. Sie war noch Schülerin, als er sie zum erstenmal mit in den Kreis brachte, und die Art, wie sie da saß, mit ihren hübschen Augen den theologisch-soziologischen Auseinandersetzungen folgte, machte mich ganz elend. Ich sah ihr an, daß sie viel lieber tanzen oder ins Kino gegangen wäre. Sommerwild, bei dem diese Zusammenkunft stattfand, fragte mich dauernd: Ist Ihnen zu heiß, Schnier, und ich sagte: Nein, Prälat, obwohl mir der Schweiß von Stirn und Wangen lief. Ich ging schließlich auf Sommerwilds Balkon, weil ich das Gerede nicht mehr ertragen konnte. Sie selbst hatte das ganze Palaver ausgelöst, weil sie - übrigens vollkommen außer dem Zusammenhang des Gesprächs, das eigentlich über Größe und Grenzen des Provinzialismus ging - gesagt hatte, sie fände einiges, was Benn geschrieben hätte, doch »ganz hübsch«. Daraufhin wurde Fredebeul, als dessen Verlobte sie galt, knallrot, denn Kinkel warf ihm einen seiner berühmten sprechenden Blicke zu: »Wie, das hast du noch nicht bei ihr in Ordnung gebracht ?« Er brachte es also selbst in Ordnung und schreinerte das arme Mädchen zurecht, indem er das ganze Abendland

als Hobel ansetzte. Es blieb fast nichts von dem netten Mädchen übrig, die Späne flogen, und ich ärgerte mich über diesen Feigling Fredebeul, der nicht eingriff, weil er mit Kinkel auf eine bestimmte ideologische Linie »verschworen« ist, ich weiß jetzt gar nicht mehr, ob links oder rechts, jedenfalls haben sie ihre Linie, und Kinkel fühlte sich moralisch verpflichtet, Fredebeuls Braut auszurichten. Auch Sommerwild rührte sich nicht, obwohl er die Kinkel und Fredebeul entgegengesetzte Linie vertritt, ich weiß nicht welche: wenn Kinkel und Fredebeul links sind, ist Sommerwild rechts, oder umgekehrt. Auch Marie war ein bißchen blaß geworden, aber ihr imponiert Bildung - das habe ich ihr nie ausreden können -, und Kinkels Bildung imponierte auch der späteren Frau Fredebeul: sie nahm mit fast schon unzüchtigen Seufzern die wortstarke Belehrung hin: Das ging von den Kirchenvätern bis Brecht wie ein Unwetter nieder, und als ich erfrischt vom Balkon zurückkam, saßen alle vollkommen erschossen da, tranken Bowle - und das ganze nur, weil das arme Ding gesagt hatte, sie fände einiges von Benn »ganz hübsch«.

Jetzt hat sie schon zwei Kinder von Fredebeul, ist kaum zweiundzwanzig, und während das Telefon immer noch in ihrer Wohnung klingelte, stellte ich mir vor, wie sie irgendwo mit Babyflaschen, Puderdosen, Windeln und Cremes herumhantierte, vollkommen hilflos und konfus, und ich dachte an die Berge von schmutziger Babywäsche und das ungespülte, fettige Geschirr in ihrer Küche. Ich hatte ihr einmal, als mir die Unterhaltung zu anstrengend wurde, geholfen, Toast zu rösten, Schnittchen zu machen und Kaffee zu kochen, Arbeiten, von denen ich nur sagen kann, daß sie mir weniger widerwärtig sind als gewisse Formen der Unterhaltung.

Eine sehr zaghafte Stimme sagte: »Ja, bitte?« und ich konnte aus dieser Stimme heraushören, daß es in Küche, Badezimmer und Schlafzimmer hoffnungsloser aussah als je. Riechen konnte ich diesmal fast nichts: nur, daß sie eine Zigarette in der Hand

haben mußte.

»Schnier«, sagte ich, und ich hatte einen Ausruf der Freude erwartet, wie sie ihn immer tut, wenn ich sie anrufe. Ach, Sie in Bonn - wie nett - oder ähnlich, aber sie schwieg verlegen, sagte dann schwach: »Ach, nett«. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Früher hatte sie immer gesagt: »Wann kommen Sie noch einmal und führen uns was vor?« Kein Wort. Es war mir peinlich, nicht meinet-, mehr ihretwegen, meinetwegen war es nur deprimierend, ihretwegen war es peinlich. »Die Briefe«, sagte ich schließlich mühsam, »die Briefe, die ich Marie an Ihre Adresse schickte?«

»Liegen hier«, sagte sie, »ungeöffnet zurückgekommen.«


»An welche Adresse hatten Sie sie denn nachgeschickt?«


»Ich weiß nicht«, sagte sie, »das hat mein Mann gemacht.«


»Aber Sie müssen doch auf den zurückkommenden Briefen gesehen haben, welche Adresse er drauf geschrieben hat?«

»Wollen Sie mich verhören?«


»O nein«, sagte ich sanft, »nein, nein, ich dachte nur ganz bescheiden, ich könnte ein Recht haben, zu erfahren, was mit meinen Briefen geschehen ist.«

»Die Sie, ohne uns zu fragen, hierhergeschickt haben.«


»Liebe Frau Fredebeul«, sagte ich, »bitte, werden Sie jetzt menschlich.« Sie lachte, matt, aber doch hörbar, sagte aber nichts.

»Ich meine«, sagte ich, »es gibt doch einen Punkt, wo die Menschen, wenn auch aus ideologischen Gründen — menschlich werden.«

»Soll das heißen, daß ich mich bisher unmenschlich verhalten habe ?«


»Ja«, sagte ich. Sie lachte wieder, sehr matt, aber immer noch hörbar.


»Ich bin sehr unglücklich über diese Geschichte«, sagte sie schließlich, »aber mehr kann ich nicht sagen. Sie haben uns alle eben schrecklich enttäuscht.«

»Als Clown?« fragte ich.


»Auch«, sagte sie, »aber nicht nur.«

»Ihr Mann ist wohl nicht zu Hause?«


»Nein«, sagte sie, »er kommt erst in ein paar Tagen zurück. Er hält Wahlreden in der Eifel.«

»Was?« rief ich; das war wirklich eine Neuigkeit, »doch nicht für die CDU?«


»Warum nicht«, sagte sie in einem Ton, der mir deutlich zu verstehen gab, daß sie gern einhängen würde.

»Na gut«, sagte ich, »ist es zuviel verlangt, wenn ich Sie bitte, mir meine Briefe hierherzuschicken.«

»Wohin?«


»Nach Bonn - hier an meine Bonner Adresse.«


»Sie sind in Bonn?« fragte sie, und es kam mir so vor, als ob sie ein »Um Gottes willen« unterdrücke.

»Auf Wiedersehen», sagte ich, »und Dank für soviel Humanität.« Es tat mir leid, daß ich so böse mit ihr war, ich war am Ende. Ich ging in die Küche, nahm den Kognak aus dem Eisschrank und nahm einen tiefen Schluck. Es half nichts, ich nahm noch einen, es half ebensowenig. Von Frau Fredebeul hatte ich eine solche Abfertigung am wenigsten erwartet. Ich hatte mit einem langen Sermon über die Ehe gerechnet, mit Vorwürfen über mein Verhalten Marie gegenüber; sie konnte auf eine nette, konsequente Weise dogmatisch sein, aber meistens, wenn ich in Bonn war und sie anrief, hatte sie mich scherzhaft aufgefordert, ihr doch noch einmal in Küche und Kinderzimmer zu helfen. Ich mußte mich in ihr getäuscht haben, oder vielleicht war sie wieder schwanger und schlecht gelaunt. Ich hatte nicht den Mut, noch einmal anzurufen und möglicherweise herauszukriegen, was mit ihr los war. Sie war immer so nett zu mir gewesen. Ich konnte es mir nicht anders erklären, als daß Fredebeul ihr »strikte Anweisungen« gegeben hatte, mich so abzufertigen. Mir ist schon oft

aufgefallen, daß Ehefrauen loyal gegenüber ihrem Mann sind bis zum völligen

nicht viel mehr ist als ein opportunistischer Schwätzer, der um jeden Preis Karriere machen will und seine Großmutter »fallen lassen« würde, wenn sie ihm hinderlich wäre. Sicher hatte er ihr gesagt: »Schnier abschreiben«, und sie schrieb mich einfach ab. Sie war ihm Untertan, und so lange er gemeint hatte, ich sei zu irgend etwas nütze, hatte sie ihrer Natur folgen und nett zu mir sein dürfen, jetzt mußte sie gegen ihre Natur schnöde zu mir sein. Vielleicht tat ich ihnen auch unrecht, und sie folgten beide nur ihrem Gewissen. Wenn Marie mit Züpfner verheiratet war, war es wohl sündhaft, wenn sie mir Kontakt mit ihr verschafften - daß Züpfner der Mann im Dachverband war und Fredebeul nützen konnte, machte dem Gewissen keine Schwierigkeiten. Sicher mußten die das Gute und Richtige auch dann tun, wenn es ihnen nützte. Über Fredebeul war ich weniger erschrocken als über seine Frau. Über ihn hatte ich mir nie Illusionen gemacht, und nicht einmal die Tatsache, daß er jetzt Wahlreden für die CDU hielt, konnte mich in Erstaunen versetzen.

Ich stellte die Kognakflasche endgültig in den Eisschrank zurück.


Am besten rief ich sie jetzt alle hintereinander an, um die Katholiken hinter mir zu haben. Ich war irgendwie wach geworden und humpelte nicht einmal mehr, als ich aus der Küche wieder ins Wohnzimmer ging.

Sogar die Garderobe und die Tür zur Besenkammer in der Diele waren rostfarben. Ich versprach mir nichts davon, Kinkel anzurufen - und wählte doch seine

Nummer. Er hatte sich immer als begeisterter Verehrer meiner Kunst erklärt - und wer unser Gewerbe kennt, weiß, daß sogar das winzigste Lob eines Bühnenarbeiters unsere Brust bis zum Platzen schwellen läßt. Ich hatte den Wunsch, Kinkels christlichen Abendfrieden zu stören - und den Hintergedanken, daß er mir Maries Aufenthalt verraten würde. Er war der Kopf des Kreises, hatte Theologie studiert, dann aber einer hübschen Frau wegen das Studium abgebrochen, war Jurist geworden,

hatte sieben

Kinder und galt als »einer unserer fähigsten Sozialpolitiker«. Vielleicht war er's wirklich, ich konnte das nicht beurteilen. Bevor ich ihn kennenlernte, hatte Marie mir eine Broschüre von ihm zu lesen gegeben, Wege ^u einer neuen Ordnung, und nach der Lektüre dieser Schrift, die mir gut gefiel, hatte ich ihn mir als einen großen, zarten, blonden Menschen vorgestellt, und als ich ihn dann zum erstenmal sah: einen schwe- ren, kurzen Kerl mit dichtem schwarzen Haar, »strotzend von Vitalität«, konnte ich gar nicht glauben, daß er es sei. Daß er nicht so aussah, wie ich ihn mir vorgestellt habe, macht mich vielleicht so ungerecht ihm gegenüber. Der alte Derkum hatte immer, wenn Marie anfing, von Kinkel zuschwärmen, von den Kinkel-Cocktails gesprochen: Mischungen aus wechselnden Bestandteilen: Marx plus Guardini, oder Bloy plus Tolstoi.

Als wir zum erstenmal eingeladen wurden, fing die Sache gleich peinlich an. Wir kamen viel zu früh, und im Hintergrund der Wohnung stritten sich Kinkels Kinder laut, mit zischenden Stimmen, die durch Zischen beschwichtigt wurden, darüber, wer den Abendbrottisch abräumen müsse. Kinkel kam, lächelnd, noch kauend, und überspielte krampfhaft seine Gereiztheit über unser zu frühes Erscheinen. Auch Sommerwild kam, nicht kauend, sondern grinsend und händereibend. Kinkels Kinder im Hintergrund kreischten auf eine bösartige Weise, die in peinlichem Widerspruch zu Kinkels Lächeln und Sommerwilds Grinsen stand, wir hörten, wie es hinten von Ohrfeigen klatschte, ein brutales Geräusch, und, hinter geschlossenen Türen, wußte ich, ging das Kreischen heftiger als vorher weiter. Ich saß da neben Marie und rauchte vor Aufregung, durch die Disharmonien im Hintergrund vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht, eine Zigarette nach der anderen, während Sommerwild mit Marie plauderte, immer dieses »verzeihende und großzügige Lächeln« auf dem Gesicht. Wir waren zum erstenmal seit unserer Flucht wieder in Bonn. Marie war blaß

vor Aufregung, auch vor Ehrfurcht und Stolz, und ich verstand sie sehr gut. Es lag

ihr daran, sich mit der »Kirche wieder 2u versöhnen«, und Sommerwild war so nett zu ihr, und Kinkel und Sommerwild waren Leute, zu denen sie ehrfürchtig aufblickte. Sie stellte mich Sommerwild vor, und als wir uns wieder setzten, sagte Sommerwild: »Sind Sie verwandt mit den Braunkohlenschniers ?« Mich ärgerte das. Er wußte ganz genau, mit wem ich verwandt war. Fast jedes Kind in Bonn wußte, daß Marie Derkum mit einem von den Braunkohlenschniers durchgebrannt war, »kurz vor dem Abitur, und sie war doch so fromm«. Ich beantwortete Sommerwilds Frage gar nicht, er lachte und sagte: »Mit Ihrem Herrn Großvater geh ich manchmal auf die Jagd, und Ihren Herrn Vater treffe ich gelegentlich zum Skat in der Bonner Herren- Union.« Auch darüber ärgerte ich mich. Er konnte doch nicht so dumm sein, anzunehmen, daß mir dieser Unsinn mit Jagd und Herren-Union imponieren würde, und er sah mir nicht so aus, als ob er aus Verlegenheit irgend etwas sagte. Ich machte endlich den Mund auf und sagte: »Auf die Jagd ? Ich dachte immer, katholischen Geistlichen wäre Teilnahme an der Jagd verboten.« Es entstand ein peinliches Schweigen, Marie wurde rot, Kinkel rannte irritiert durchs Zimmer und suchte den Korkenzieher, seine Frau, die gerade hereingekommen war, schüttete Salzmandeln auf einen Glasteller, auf dem schon Oliven lagen. Sogar Sommerwild wurde rot, und es stand ihm gar nicht, er war schon rot genug im Gesicht. Er sagte leise, und doch ein bißchen gekränkt: »Für einen Protestanten sind Sie gut informiert.« Und ich sagte: »Ich bin kein Protestant, aber ich interessiere mich für bestimmte Dinge, weil Marie sich dafür interessiert.« Und während Kinkel uns allen Wein einschenkte, sagte Sommerwild: »Es gibt Vorschriften, Herr Schnier, aber auch Ausnahmen. Ich stamme aus einem Geschlecht, in dem der Oberförsterberuf erblich war.« Wenn er gesagt hätte Försterberuf, so hätte ich das verstanden, daß er sagte Oberförsterberuf, fand ich wieder ärgerlich, aber ich sagte nichts, machte nur ein mucksiges Gesicht.

Dann fingen sie mit ihrer Augensprache an. Frau Kinkel

sagte mit den Augen zu Sommerwild: Lassen Sie ihn, er ist ja noch so schrecklich jung. Und Sommerwild sagte mit seinen Augen zu ihr: Ja, jung und ziemlich ungezogen, und Kinkel sagte, während er mir als letztem Wein eingoß, mit den Augen zu mir: O Gott, wie jung Sie noch sind. Laut sagte er zu Marie: »Wie geht's dem Vater? Immer noch der alte?« Die arme Marie war so blaß und verstört, daß sie nur stumm nicken konnte. Sommerwild sagte: »Was wäre unsere gute alte, so fromme Stadt ohne Herrn Derkum.« Das ärgerte mich wieder, denn der alte Derkum hatte mir erzählt, daß Sommerwild versucht hatte, die Kinder der katholischen Schule, die immer noch bei ihm Bonbons und Bleistifte kaufen, vor ihm zu warnen. Ich sagte:

»Ohne Herrn Derkum wäre unsere gute alte, so fromme Stadt noch dreckiger, er ist wenigstens kein Heuchler.« Kinkel warf mir einen erstaunten Blick zu, hob sein Glas und sagte: »Danke, Herr Schnier, Sie geben mir das Stichwort für einen guten Toast: Trinken wir auf das Wohl von Martin Derkum.« Ich sagte: »Ja, auf sein Wohl mit Freuden.« Und Frau Kinkel sprach wieder mit den Augen zu ihrem Mann: Er ist nicht nur jung und ungezogen - auch unverschämt. Ich habe nie verstanden, daß Kinkel später immer diesen »ersten Abend mit Ihnen« als den nettesten bezeichnet hat. Kurz drauf kamen Fredebeul, seine Braut, Monika Silvs und ein gewisser von Severn, von dem, bevor er kam, gesagt wurde, daß er »zwar eben konvertiert sei, aber der SPD nahestehe«, was offenbar als himmelstürmende Sensation angesehen wurde. Ich sah auch Fredebeul an diesem Abend zum erstenmal, und es ging mir mit ihm wie mit fast allen: ich war ihnen trotz allem sympathisch, und sie waren mir alle trotz allem unsympathisch, außer Fredebeuls Braut und Monika Silvs; von Severn war mir weder das eine noch das andere. Er war langweilig und schien fest entschlossen, sich auf der sensationellen Tatsache, Konvertit und SPD-Mitglied zu sein, endgültig auszuruhen; er lächelte, war freundlich, und doch schienen seine etwas vorstehenden

Augen ständig zu sagen: Seht mich an, ich

bins! Ich fand ihn gar nicht übel. Fredebeul war sehr jovial zu mir, er sprach fast eine Dreiviertelstunde über Beckett und Ionesco, rasselte lauter Zeug herunter, von dem ich merkte, daß ers zusammengelesen hatte, und sein glattes hübsches Gesicht mit dem überraschend breiten Mund strahlte vor Wohlwollen, als ich dummerweise bekannte, Beckett gelesen zu haben; alles, was er sagt, kommt mir immer so bekannt vor, als ob ichs schon irgendwo gelesen hätte. Kinkel strahlte ihn bewundernd an, und Sommerwild blickte um sich, mit den Augen sprechend: Was, wir Katholiken sind nicht hinterm Mond. Das alles war vor dem Gebet. Es war Frau Kinkel, die sagte: »Ich glaube, Odilo, wir können das Gebet sprechen. Heribert kommt wohl heute nicht« - sie blickten alle auf Marie, dann viel zu plötzlich von ihr weg, aber ich kapierte nicht, warum wieder so ein peinliches Schweigen entstand - erst in Hannover im Hotelzimmer wußte ich plötzlich, daß Heribert Züpfners Vorname ist. Er kam doch noch später, nach dem Gebet, als sie mitten im Thema des Abends waren, und ich fand es sehr lieb, wie Marie sofort, als er reinkam, auf ihn zuging, ihn ansah und eine hilflose Schulterbewegung machte, bevor Züpfner die anderen begrüßte und sich lächelnd neben mich setzte. Sommerwild erzählte dann die Geschichte von dem katholischen Schriftsteller, der lange mit einer geschiedenen Frau zusammen- lebte, und als er sie dann heiratete, sagte ein hoher Prälat zu ihm: »Aber mein lieber Besewitz, konnten Sies denn nicht beim Konkubinat belassen?« Sie lachten alle ziemlich ausgelassen über diese Geschichte, besonders Frau Kinkel auf eine fast schon obszöne Weise. Der einzige, der nicht lachte, war Züpfner, und ich hatte ihn gern deswegen. Auch Marie lachte nicht. Sicher erzählte Sommerwild diese Geschichte, um mir zu zeigen, wie großherzig, warm, wie witzig und farbig die katholische Kirche sei; daß ich mit Marie auch sozusagen im Konkubinat lebte, daran dachten sie nicht. Ich erzählte ihnen die Geschichte von dem Arbeiter, der ganz in unserer Nähe gelebt

hatte; er hieß Frehlingen und hatte in

seinem Siedlungshäuschen auch mit einer geschiedenen Frau zusammengelebt, deren drei Kinder er sogar ernährte. Zu Frehlingen war eines Tages der Pfarrer gekommen und hatte ihn mit ernster Miene und unter gewissen Drohungen aufgefordert, »dem unsittlichen Treiben ein Ende zu setzen«, und Frehlingen, der ziemlich fromm war, hatte die hübsche Frau mit ihren drei Kindern tatsächlich fortgeschickt. Ich erzählte auch, wie die Frau nachher auf den Strich ging, um die Kinder zu ernähren, und wie Frehlingen ans Saufen gekommen war, weil er sie wirklich gern hatte. Es entstand wieder so ein peinliches Schweigen, wie immer, wenn ich etwas sagte, aber Sommerwild lachte und sagte: »Aber Herr Schnier, Sie wollen doch die beiden Fälle nicht etwa miteinander vergleichen?« - »Wieso nicht?« sagte ich. »Das können Sie nur, weil Ihnen Besewitz kein Begriff ist«, sagte er wütend, »er ist der feinsinnigste Autor, der die Bezeichnung christlich verdient.« Und ich wurde auch wütend und sagte: »Wissen Sie denn, wie feinsinnig Frehlingen war - und welch ein christlicher Arbeiter.« Er sah mich nur kopfschüttelnd an und hob verzweifelt die Hände. Es entstand eine Pause, in der man nur Monika Silvs hüsteln hörte, aber sobald Fredebeul im Zimmer ist, braucht kein Gastgeber Angst vor einer Gesprächspause zu haben. Er hakte sich in die kurze Stille sofort ein, lenkte zum Thema des Abends zurück und sprach von der Relativität des Armutsbegriffs, etwa eineinhalb Stunden lang, bis er endlich Kinkel Gelegenheit gab, die Anekdote von jenem Mann zu erzählen, der zwischen fünfhundert Mark und dreitausend im Monat das nackte Elend erlebt hatte, und Züpfner bat mich um eine Zigarette, um seine Schamröte mit Rauch zu verhüllen.

Mir war so elend wie Marie, als wir mit der letzten Bahn nach Köln zurückfuhren. Wir hatten das Geld für die Fahrt zusammengekratzt, weil Marie soviel daran gelegen hatte, die Einladung anzunehmen. Es war uns auch körperlich übel, wir hatten zu

wenig gegessen und mehr getrunken, als wir gewohnt waren. Die Fahrt kam uns

wir in Köln-West ausstiegen, mußten wir zu Fuß nach Hause gehen. Wir hatten kein Fahrgeld mehr.


Bei Kinkel kam sofort jemand ans Telefon. »Alfred Kinkel hier«, sagte eine selbstbewußte Jungenstimme.

»Schnier«, sagte ich, »könnte ich Ihren Vater sprechen?«


»Schmer, der Theologe oder Schnier, der Clown?«


»Der Clown«, sagte ich.


»Ach«, sagte er, »ich hoffe, Sie nehmen es nicht zu schwer ?«


»Schwer ?« sagte ich müde, »was soll ich nicht zu schwer nehmen?«


»Was?« sagte er, »Sie haben die Zeitung nicht gelesen?«


»Welche?« sagte ich.


»Die Stimme Bonns«, sagte er.


»Ein Verriß ?« fragte ich.


»Oh«, sagte er, »ich glaube, das ist schon eher eine Todesanzeige. Soll ichs Ihnen mal holen und vorlesen?«

»Nein, danke«, sagte ich. Dieser Junge hatte einen hübsch sadistischen Unterton in der Stimme.

»Aber Sie sollten sichs anschauen«, sagte er, »um daraus zu lernen.« Mein Gott, pädagogische Ambitionen hatte er auch noch.

»Wer hats denn geschrieben?« sagte ich.


»Ein gewisser Kostert, der als unser Korrespondent im Ruhrgebiet bezeichnet wird. Glänzend geschrieben, aber ziemlich gemein.«

»Nun ja«, sagte ich, »er ist ja auch ein Christ.«


»Sie etwa nicht?«


»Nein«, sagte ich, »Ihr Vater ist wohl nicht zu sprechen?«


»Er will nicht gestört werden, aber für Sie störe ich ihn gerne.«

familie miteinander in Streit geraten: zwei männliche Schlangen und eine weibliche. Es ist mir immer peinlich, wenn ich Augen- oder Ohrenzeuge von Vorgängen werde, die nicht für mein Auge oder Ohr bestimmt sind, und die mystische Begabung, durchs Telefon Gerüche wahrzunehmen, ist keineswegs eine Freude, sondern eine Last. Es roch in der Kinkelschen Wohnung nach Fleischbrühe, als hätten sie einen ganzen Ochsen gekocht. Das Gezische im Hintergrund klang lebensgefährlich, als würde der Sohn den Vater oder die Mutter den Sohn umbringen. Ich dachte an Laokoon, und daß dieses Gezische und Gekeife - ich konnte sogar Geräusche eines Handgemenges hören, Aus und Ahs, Ausrufe wie »du ekelhaftes Biest«, »Du brutales Schwein« - in der Wohnung dessen stattfand, der als die »graue Eminenz des deutschen Katholizismus« bezeichnet wurde, trug nicht zu meiner Erheiterung bei. Ich dachte auch an den miesen Kostert in Bochum, der sich noch gestern abend ans Telefon gehängt und seinen Text durchtelefoniert haben mußte, und doch hatte er heute morgen an meiner Zimmertür wie ein demütiger Köter gekratzt und den christlichen Bruder gespielt.

Kinkel sträubte sich offenbar buchstäblich mit Händen und Füßen, ans Telefon zu kommen, und seine Frau - ich konnte die Geräusche und Bewegungen im Hintergrund allmählich entziffern - war noch heftiger dagegen als er, während der Sohn sich weigerte, mir zu sagen, er habe sich getäuscht, sein Vater sei nicht zu Hause. Plötzlich wurde es vollkommen still, so still wie es ist, wenn jemand verblutet, wirklich : es war eine verblutende Stille. Dann hörte ich schleppende Schritte, hörte, wie einer den Hörer vom Tisch nahm, und rechnete damit, daß der Hörer aufgelegt würde. Ich wußte noch genau, wo das Telefon in Kinkels Wohnung steht. Genau unter der von drei Barockmadonnen, die Kinkel immer als die minderwertigste bezeichnet. Mir wäre fast lieber gewesen, er hätte aufgelegt. Ich hatte Mitleid mit ihm, es mußte

fürchterlich für ihn sein, jetzt mit mir zu sprechen, und für mich selbst erhoffte ich

weder Geld noch guten Rat. Wäre seine Stimme außer Atem gewesen, hätte mein Mitleid überwogen, aber seine Stimme war so dröhnend und vital wie je. Jemand hat mal seine Stimme mit einem ganzen Trompeterkorps verglichen.

»Hallo, Schnier«, dröhnte es mir entgegen »reizend, daß Sie anrufen.«


»Hallo, Doktor«, sagte ich, »ich bin in einer Klemme.«


Das einzig Bösartige an meinen Worten war das Doktor, denn sein Doktor ist, wie der von Papa, ein nagelneuer h. c.

»Schnier«, sagte er, »stehen wir so miteinander, daß Sie glauben, mich mit Herr Doktor anreden zu müssen?«

»Ich habe keine Ahnung, wie wir miteinander stehen«, sagte ich.


Er lachte besonders dröhnend: vital, katholisch, offen, mit »barocker Heiterkeit«. -


»Meine Sympathien für Sie sind unverändert die gleichen.« Es fiel mir schwer, das zu glauben. Wahrscheinlich war ich für ihn schon so tief gefallen, daß es sich nicht mehr lohnte, mich noch tiefer fallen zu lassen.

»Sie sind in einer Krise«, sagte er, »nichts weiter, Sie sind noch jung, reißen Sie sich zusammen, und es wird wieder werden.« Zusammenreißen, das klang nach Annas I. R. 9.

»Wovon sprechen Sie?« fragte ich mit sanfter Stimme.


»Wovon soll ich sprechen«, sagte er, »von Ihrer Kunst, Ihrer Karriere.«


»Aber das meine ich gar nicht«, sagte ich, »ich spreche, wie Sie wissen, grundsätzlich nicht über Kunst, und über Karriere schon gar nicht. Ich meine - ich will - ich suche Marie«, sagte ich.

Er stieß einen nicht genau definierbaren Ton aus, der zwischen Grunzen und Rülpsen lag. Ich hörte im Hintergrund des Zimmers noch Restgezische, hörte, wie Kinkel den Hörer auf den Tisch legte, wieder aufnahm, seine Stimme war kleiner

und dunkler, er hatte sich eine Zigarre in den Mund gesteckt.

»Vergangen?« fragte ich, »versuchen Sie sich doch vorzustellen, Ihre Frau ginge plötzlich zu einem anderen.«

Er schwieg auf eine Weise, die mir auszudrücken schien: täte sie es doch, sagte dann, an seiner Zigarre herumschmatzend: »Sie war nicht Ihre Frau, und Sie haben nicht sieben Kinder miteinander.«

»So«, sagte ich, »sie war nicht meine Frau?«


»Ach«, sagte er, »dieser romantische Anarchismus. Seien Sie ein Mann.«


»Verflucht«, sagte ich, »gerade , weil ich diesem Geschlecht angehöre, ist die Sache schlimm für mich - und die sieben Kinder können ja noch kommen. Marie ist erst fünfundzwanzig.«

»Unter einem Mann«, sagte er, »verstehe ich jemand, der sich abfindet.«


»Das klingt sehr christlich«, sagte ich.


»Gott, ausgerechnet Sie wollen mir wohl sagen, was christlich ist.«


»Ja«, sagte ich, »soweit ich unterrichtet bin, spenden sich nach katholischer Auffassung die Eheleute gegenseitig das Sakrament?«

»Natürlich«, sagte er.


»Und wenn sie doppelt und dreifach standesamtlich und kirchlich verheiratet sind und spenden sich das Sakrament nicht - ist die Ehe nicht existent.«

»Hm«, machte er.


»Hören Sie, Doktor«, sagte ich, »würde es Ihnen etwas ausmachen, die Zigarre aus dem Mund zu nehmen. Das Ganze klingt, als sprächen wir über Aktienkurse. Ihr Schmatzen macht mir die Sache irgendwie peinlich.«

»Na, hören Sie«, sagte er, aber er nahm die Zigarre aus dem Mund, »und merken Sie sich, wie Sie über die Sache denken, ist Ihre Sache. Fräulein Derkum denkt offenbar anders darüber und handelt so, wie ihr Gewissen es ihr befiehlt. Genau richtig - kann

ich nur sagen.«

»Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Schnier«, sagte er, »wir leben nicht mehr im Mittelalter.«

»Ich wünschte, wir lebten im Mittelalter«, sagte ich, »dann wäre sie mir als Konkubine erlaubt und würde nicht dauernd in die Gewissenszange genommen. Nun, sie wird wiederkommen.«

»An Ihrer Stelle wäre ich nicht so sicher, Schnier«, sagte Kinkel. »Es ist schlimm, daß Ihnen offenbar das Organ für Metaphysik fehlt.«

»Mit Marie war alles in Ordnung, solange sie sich Sorgen um meine Seele gemacht hat, aber ihr habt ihr beigebracht, sich Sorgen um ihre eigene Seele zu machen, und jetzt ist es so, daß ich, dem das Organ für Metaphysik fehlt, mir Sorgen um Maries Seele mache. Wenn sie mit Züpfner verheiratet ist, wird sie erst richtig sündig. Soviel habe ich von eurer Metaphysik kapiert: es ist Unzucht und Ehebruch, was sie begeht, und Prälat Sommerwild spielt dabei die Rolle des Kupplers.«

Er brachte es tatsächlich fertig zu lachen, wenn auch nicht sehr dröhnend. »Das klingt alles sehr komisch, wenn man bedenkt, daß Heribert sozusagen die weltliche und Prälat Sommerwild sozusagen die geistliche Eminenz des deutschen Katholizismus ist.«

»Und Sie sind sein Gewissen«, sagte ich wütend, »und wissen genau, daß ich recht habe.«

Er schnaufte eine Weile da oben am Venusberg unter der minderwertigsten seiner drei Barockmadonnen. »Sie sind auf eine bestürzende Weise jung - und auf eine beneidenswerte.«

»Lassen Sie das, Doktor«, sagte ich, »lassen Sie sich nicht bestürzen und beneiden Sie mich nicht, wenn ich Marie nicht zurückbekomme, bringe ich euren attraktivsten Prälaten um. Ich bringe ihn um«, sagte ich, »ich habe nichts mehr zu verlieren.«

Er schwieg und steckte wieder seine Zigarre in den Mund.

arbeitet. Wenn ich Züpfner umbrächte, das war Ihnen ganz recht: der mag Sie nicht und steht Ihnen zu weit rechts, während Sommerwild für Sie eine gute Stütze in Rom ist, wo Sie - ganz zu Unrecht übrigens nach meiner bescheidenen Meinung — als linker Vogel verschrieen sind.«

»Lassen Sie doch diesen Unsinn, Schnier. Was haben Sie nur?«


»Katholiken machen mich nervös«, sagte ich, »weil sie unfair sind.«


»Und Protestanten?« fragte er lachend.


»Die machen mich krank mit ihrem Gewissensgefummel.«


»Und Atheisten?« Er lachte noch immer.


»Die langweilen mich, weil sie immer nur von Gott sprechen.«


»Und was sind Sie eigentlich?«


»Ich bin ein Clown«, sagte ich, »im Augenblick besser als mein Ruf. Und es gibt ein katholisches Lebewesen, das ich notwendig brauche: Marie - aber ausgerechnet die habt ihr mir genommen.«

»Unsinn, Schnier«, sagte er, »schlagen Sie sich doch diese Entführungstheorien aus dem Kopf. Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert.«

»Eben«, sagte ich, »im dreizehnten wäre ich ein netter Hofnarr gewesen, und nicht einmal die Kardinale hätten sich drum gekümmert, ob ich mit ihr verheiratet gewesen wäre oder nicht. Jetzt trommelt jeder katholische Laie auf ihrem armen Gewissen rum, treibt sie in ein unzüchtiges, ehebrecherisches Leben nur wegen eines dummen Fetzens Papier. Ihre Madonnen, Doktor, hätten Ihnen im dreizehnten Jahrhundert Exkommunikation und Kirchenbann eingebracht. Sie wissen ganz genau, daß sie in Bayern und Tirol aus den Kirchen geklaut werden - ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß Kirchenraub auch heute noch als ziemlich schweres Verbrechen gilt.«

»Hören Sie, Schnier«, sagte er, »wollen Sie etwa persönlich werden? Das

»Sie mischen sich seit Jahren in meine persönlichsten Dinge ein, und wenn ich eine kleine Nebenbemerkung mache und Sie mit einer Wahrheit konfrontiere, die persönlich unangenehm werden könnte, werden Sie wild. Wenn ich wieder zu Geld gekommen bin, werde ich einen Privatdetektiv engagieren, der für mich herausfinden muß, woher Ihre Madonnen stammen.«

Er lachte nicht mehr, hüstelte nur, und ich merkte, daß er noch nicht begriffen hatte, daß es mir ernst war. »Hängen Sie ein, Kinkel«, sagte ich, »legen Sie auf, sonst fange ich noch vom Existenzminimum an. Ich wünsche Ihnen und Ihrem Gewissen einen guten Abend.« Aber er begriff es noch immer nicht, und so war ich es, der zuerst auflegte.